Ich habe jetzt immer eine Stoppuhr bei mir. Wann immer ich in ein persönliches (natürlich mit Sicherheitsabstand), telefonisches oder Online-Gespräch komme, stoppe ich die Zeit, bis das Thema auf Corona kommt. Die Rekordzeit liegt bei 4 Sekunden inklusive dem "wie geht es Ihnen?". Dabei hat gerade diese Frage einen so hohen Stellenwert wie noch nie zuvor. Dennoch bleibt sie eine Floskel für die meisten und nicht mehr als ein Gesprächseinstieg.
Was mich heute in der Tat nachdenklich gestimmt hat - außer der Frage, wie ich perspektivisch an Klopapier komme - war eine Äußerung im Zuge eines Gesprächs, das ich beobachtet habe.
Das Gespräch entwickelte sich in Richtung "vernünftiger Umgang mit der Situation" und gemeinsam war man schnell der Ansicht, dass all jene, die derzeit die Biergärten in München besiedeln, bei uns die Almen belagern, die Parks und Eisdielen bevölkern ohne Mindestabstand und einen Funken Hirn (aber ganz sicher dabei über Corona diskutierend), einfach nur eingesperrt gehören. So weit so gut.
Was mich aufhorchen hat lassen, war die Begründung für dieses rücksichtslose Verhalten. Es wurde argumentiert, dass schon von klein auf den Kindern nun bereits beigebracht wird, wie außergewöhnlich, talentiert, einzigartig und individuell sie sind. Diese Lehre des "Du bist ganz besonders" wird teils gezielt mehrfach in den Unterricht eingebaut; grundsätzlich, um den jungen Menschen Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Mut und Selbstbewusstsein mit auf den Weg zu geben, nehme ich an. Aus Sicht des Argumentieren geschieht dies mit ziemlicher Overpace. Und da müsse man sich schließlich nicht wundern, wenn am Donnerstag Nachmittag bei Kaiserwetter das Tambosi in München aus allen Nähten platzt. Es ist diesen Unikaten nämlich scheißegal, ob man selbst infiziert ist und sich gerade der fahrlässigen Körperverletzung schuldig macht, geschweige denn die 80 Jährige später in der (überfüllten) U-Bahn auf dem Gewissen hat.
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer hat so treffend formuliert: "Alles, was eine Wirkung hat, hat auch eine Nebenwirkung! Das heißt, Sie können bedenkenlos alles konsumieren, was keine Nebenwirkung hat. Sie können dabei immer sicher sein, dass es auch keinerlei Wirkung hat!"
Ich dachte, er spricht von Tofu, tatsächlich meint er aber in erster Linie Medikamente. Ich frage mich nunmehr, ob diese Aussage nicht auch auf das (derzeitige) Verhalten zu übertragen ist?
Ist der Wirkstoff "Außergewöhnlichkeit" behaftet mit der Nebenwirkung "Ignoranz"? Und verlieren wir mit zunehmender Selbstoptimierung und dem Hype um das wahre Ich den Sinn für die Belange unserer Mitmenschen?
Oder ist ein Großteil unserer Bevölkerung einfach nur dumm wie 100 Meter Feldweg? Und ist das neben Corona nicht die viel dramatischere Pandemie, weil sie auch noch vererbbar ist?
Ich gebe zu, ich hatte bei dieser Argumentation einen allerersten und deutlichen Widerstand in mir. "Hey, Du Knallkopf, ich versuche Menschen ständig dahin zu bekommen, dass sie sich selbst wieder wertschätzen, in ihrem Dasein Sinn erkennen und ihrer Bestimmung folgen. Nur, weil für Dich jeder Mensch mit einem Mini-Zugang zu Spiritualität und Emotion ein brotloser Träumer ist und ohne Schweiß und Tränen keine Arbeit wertvoll ist, musst Du noch lange nicht alle über einen Kamm scheren. Du geistloser Horst, kauf Dir ne Hirnwindel gegen Deine Inkontinenz!" Immer wieder erstaunlich, was man in ein paar Sekunden so alles denken kann.
Und erstaunlich, wie unachtsam ich in diesem Moment mal wieder war.
Ich selbst verfechte den Ansatz, die Achtsamkeit nicht als ein Tool zur Selbstoptimierung zu nutzen sondern Werte wie Mitgefühl, Demut, Dankbarkeit und Bescheidenheit immer präsent zu halten. Ich selbst stoße mich immer wieder daran, wenn Achtsamkeitspraktizierende mit jeder Übung, jeder Meditation und jeder Reflektion ihr Ego noch mehr ins Zentrum rücken, statt Abstand davon zu gewinnen.
Tja, und ich selbst hätte gut und gerne diese Aussage aus dem beobachteten Gespräch treffen können. Ja, mit dieser Haltung hätte ich selbst eine ganz ähnliche Aussage treffen können.
Ich habe mich nur darüber geärgert, dass ein vermeintlicher "Nicht-Experte" in mein Metier hineinpfuscht. Hallo Ego!
Dabei weiß ich weder, ob er nicht doch Experte ist, jeden Tag Achtsamkeit auf seine Art praktiziert oder ständig reflektiert und dabei Prinzipien wie Solidarität und Loyalität gerade in diesen Zeiten achtsam lebt und besonders hoch hängt.
Tja, wenn in den bayerischen Biergärten dieser Tage die Generalversammlung aller achtlosen Hirnis war, dann hätte ich einen Tisch für mich ganz alleine gehabt, hätte eine Hirnwindel getragen und vermutlich Tofu bestellt!
P.S.: Wir sind alle verbunden, wir sind alle Eins, heißt es so schön. Das bringt eine gewisse Verantwortung mit sich.
Denn das AllEinsSein hat nichts mit Alleinsein zu tun. Wir sind keine Eremiten sondern auf soziale Kontakte angewiesen. Wenn wir jetzt an alle denken und vernünftig sind, dann können wir auch bald unsere sozialen Interaktionen wieder unbeschwert genießen.
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